Der Unterschied zwischen funktionellem Gesangsunterricht und Stimmtherapie
Das ist ja Stimmtherapie!
“Das ist ja Stimmtherapie!”, so der begeisterte Kommentar eines Schülers bei mir in Overath nach einer Übung, die auch deutlich die Heiserkeit seiner Sprechstimme reduzierte.
Aber ich will vorne beginnen:
Vor einigen Monaten kam ein neuer Schüler zu mir in den Gesangsunterricht, der tatsächlich vorher in logopädischer Behandlung war. Ziel seiner Stimmtherapie war es, seine funktionelle Dysphonie zu behandeln. Der Schüler stellte sich also in der Probestunde bei mir vor und schon bei den ersten Worten war klar, dass die Dysphonie nicht ausgeheilt war. Ich hörte (neben anderen Dingen, die hier nicht adequat in Worte gefasst werden können) Heiserkeit in der erhöhten Sprechstimme und sofort war für mich mein Ansatz im Gesangsunterricht klar. Ich begann mit kleinen falsettigen Baby-[i:] im Bereich um das g’. Seine Stimme hatte Anfangs Probleme, diese neue feine Spannung anzunehmen, was für eine Anfängerstimme völlig in Ordnung ist.
Über die Wochen lernte seine Stimme immer mehr den Zugang zum Falsett bis es sich sehr plötzlich in der letzte Stunde wirklich anfing zu befreien. Die Stimme krachte voller Störklänge – unter den Störklängen zum ersten mal hörbar: Ein echtes Falsett.
Das Ergebnis war, dass die Sprechstimme nach diesen Übungen auffällig klar war und der Schüler sagte darauf hin, dass das ja Stimmtherapie sei.
Das Problem mit dem Begriff “Therapie”
Das Wort “Therapeut” ist entgegen landläufiger Meinung bis auf bestimmte Berufsgruppen, wie z.B. Psychotherapeut nicht geschützt. AZ 15 O 100/08 LG Kiel sowie 6W 52 08 OLG Schleswig. So sind auch die Begriffe Stimmtherapeut und Sprachtherapeut nicht im Verzeichnis anerkannter Ausbildungsberufe geführt. Staatlich geprüfte Atem- Sprech- und Stimmlehrer jedoch schon.
Also rein rechtlich könnte ich vermutlich davon reden, dass ich Stimmtherapie anbiete. (Und Feldenkrais-Therapie.)
Guter Gesangsunterricht ist funktionelle Stimmtherapie
Ich persönlich unterscheide vom Vorgehen nicht zwischen Gesangsunterricht und Stimmtherapie, da es das selbe ist. Sprechen und Singen nutzt den Kehlkopf. Beim Gesangsunterricht soll die Stimme leistungsfähiger werden, in der Stimmtherapie ebenfalls. Natürlich wird im Gesangsunterricht ein Hochleistungslevel angestrebt. In der Stimmtherapie reicht es ggf. im Alltag ohne Schmerzen sprechen zu können.
Von der Denkweise gehe ich jedoch komplett anders heran. Häufig ist es in der Therapie so, dass ein Symptom x mit Mittel y therapiert wird, ohne dabei zu beachten, dass dadurch z beeinflusst wird. Natürlich ändert sich hier auch sehr viel, aber nach wie vor haben wir ein Krankensystem und kein Gesundheitssystem. Beispiel: Profigehörschutz für Musiker (ca. 170 € bis 200 €) wird von der Krankenkasse noch nicht einmal bezuschusst. Die enorm höheren Kosten der Behandlung beim Ohrenarzt und Hörgeräte übernimmt die Krankenkasse aber.
Die Betrachtungsweise bei mir im Gesangsunterricht ist jedoch ganzheitlich: Durch meine Ausbildung als Feldenkraislehrer und Erfahrung als Gesangslehrer nehme ich sehr schnell den Menschen als Ganzheit mit seinen komplexen Verwobenheiten von Verhalten, Gestik, Mimik, Psychodynamik war und kann so sehr komplex interagieren.
Ein Beispiel: Bei heiseren Stimmen liegt die Ursache sehr häufig schlicht und einfach daran, dass der Schüler oder die Schülerin Reflux hat – und das meistens wegen täglichem Kaffeekonsum oder Stress oder beidem zusammen.
Bei einer anderen Schülerin (ohne pathologische Stimmsymptome) konnte ich die Register nicht verbinden und die Haltung auffällig. Hausaufgabe: Spezifische Feldenkraislektionen. Die Schülerin nahm den Rat ernst, richtete sich innerhalb einiger Wochen erheblich auf und die Stimme schwingt seither frei verbunden.
Guter Gesangsunterricht ist funktionelle Stimmtherapie mit dem Fokus auf bereits funktionierende Stimmkomponenten und den Menschen in seiner Gesamtheit, welche bekanntlich mehr ist, als die Summe seiner Teile.
Cornelius Berger